3DEXPERIENCE Forum 2016 Tag 2 live – Digitale Transformation im Fokus

Guten Morgen! Nach einer tollen Party am Abend treffen die Besucher wieder ein. An den beiden Tagen im Berliner Westhafen konnte Dassault Systèmes über 400 Teilnehmer begrüßen.

 

10:00: Der zweite Tag des 3DEXPERIENCE Forum startet mit einem Vortrag von Daniel Niederberger, Gründer und Geschäftsführer von New Mobility Business zum Thema “Future Mobility: Erfolgsfaktoren für die Transformationsphase der Automobilindustrie”.

img_5077Der Automobilmarkt war anfangs von Innovation getrieben, später, nach dem zweiten Weltkrieg, vom Bedarf getrieben. Der VW Käfer verkaufte sich lange Jahre quasi von selbst. Inzwischen sind wir in einer Zeit des inkrementellen Fortschritts – ein neues Modell bringt gewisse Fortschritte, aber orientiert sich gleichzeitig stark am Vorgängermodell. Eine Hauptrolle spielte immer die Technologie – neue Funktionen, Sicherheit und anderes.

Heute sind wir in einer Umbruchphase. Auf der einen Seite laufen die bewährten Geschäftsmodelle noch, gleichzeitig betreten neue Spieler die Bühne. Der Verkehr in vielen Städten steht vor dem Kollaps oder wird stark eingeschränkt. Auch der Statuswert des Autos ändert sich. Neue Technologien wie autonomes Fahren und 3D-Druck kommen auf den Markt.

In der Zukunft werden tiefere Fragen eine Rolle spielen – Nicht mehr “welches Auto?”, sondern “welcher Typ von Auto?” oder sogar “brauche ich überhaupt ein Auto?” Die Zukunft wird weit diverser sein als heute. Und auch hier: Was digital werden kann, wird digitalisiert werden. Effizienz betrifft nicht mehr nur die Fertigung und das Auto an sich betreffen, sondern auch den Benutzer, viel mehr wird mit Apps erledigt – von der Parkplatzsuche bis zur Bezahlung. Elektroantrieb wird – dank Tesla und anderen – die Zukunft sein.

Und das wird die Wertschöpfungskette total verändern, die Zulieferer verändern sich, weniger Menschen werden für die Fertigung benötigt. Autonomes Fahren wird die Welt verändern – alleine wegen der Zeit, die Menschen dann zur Verfügung steht. Was tun die Menschen während des Fahrens? Beim autonomen Fahren geht es nicht um die Autonomie, sondern um den Massiven, wertvollen Zeitgewinn. Das erste Auto wurde schon 3D-gedruckt, die neue Technologie wird Individualisierung fördern und das Ersatzteilgeschäft revolutionieren.

Wir werden Disruptionen sehen, die Märkte völlig verändern – siehe Uber und Taxis. Auch ein gut ausgebautes Service- und Händlernetz ist nicht mehr notwendig, wie Tesla beweist. Über ist ein Transportunternehmen ohne eigene Autos. Inzwischen investiert Uber in die Forschung für autonomes Fahren – die Zukunft lässt sich einfach ausmalen. Niederberger empfiehlt, die Disruption selbst zu denken – in einem internen Projektteam oder mit externen Mitarbeitern die bestehende Technologie im Haus zu überprüfen, wo Chancen auf eine Marktrevolution bestehen.

Strategien werden nicht überflüssig, auch wenn die Zukunft unsicherer ist als sie je war. Schon Darwin sagte: “Nicht die stärkste Spezies überlebt und auch nicht die intelligenteste, sondern diejenige, die sich am besten an neue Gegebenheiten anpassen kann.” Collaboration bestimmt die Zukunft: Viele freie Mitarbeiter, gemischte Teams, viele verschiedene Menschentypen in einem Unternehmen. Interne Startups, Inkubatoren oder Acceleratoren bringen schnelle Innovationen, deren Ergebnisse müssen dann aber auch in die bestehende, herkömmlich strukturierte Organisation eingepasst werden. Risiken müssen eingegangen werden und werden sich (wahrscheinlich) auszahlen.

 

10:30: Ralf Gester, Leiter der elektromechanischen Entwicklung bei der Volkswagen Infotainment GmbH, spricht über “Connected Cars”. Das Unternehmen entstand 2014, als Volkswagen eine Entwicklungsmannschaft übernahm, die bisher für Nokia und dann Blackberry gearbeitet hatte. Ziel von Volkswagen Infotainment ist es, eine Agenda zu haben, in die Zukunft zu schauen und die Trends der nächsten Jahre zu erkennen. Auch Gester sieht Disruptionen auf die Automobilindustrie zukommen.

img_5081Junge Menschen verbringen drei Stunden pro Tag mit dem Smartphone. Wir verbringen viel Zeit im Auto – das sind zwei Trends, die zusammenkommen. Das Problem: Smartphones haben eine Modellwechselrate von einem Jahr, bei Autos sind es sechs und mehr Jahre. Immerhin ist das Infotainmentsystem schon bei einem Innovationszyklus von zwei Jahren. Mit Car-Net bietet VW eine Lösung für das vernetzte Auto, das viele Smartphone-Elemente beinhaltet und viele Funktionen des Autos – beispielsweise die Klimatisierung – über Apps steuerbar macht. Volkswagen baut Funktionen in das System ein, die es einfacher machen, VWs im Car Sharing zu benutzen. Eine der verrücktesten Ideen: Das Auto als Packstation, Pakete können im Auto abgelegt werden.

Was mir gefällt: Gester betont, dass Software langwierig getestet wird, bevor sie ins Auto kommt. Andere sind da sorgloser, wie ich in meinem Blog schon einmal beschrieben habe. Zukünftige Funktionen werden unter anderem Car-to-Car-Kommunikation beinhalten, Autos machen sich gegenseitig beispielsweise auf freie Parkplätze oder Baustellen und Hindernisse aufmerksam machen. Kunden können individuelle Funktionen entwickeln lassen und so ihr System individualisieren.

Schwarmintelligenz beziehungsweise die Kommunikation zwischen Autos ermöglicht viele Sicherheitsfunktionen: Nachfolgende Autos machen sich bremsbereit, wenn der Vordermann bremst, Fahrwerke lassen sich adaptieren auf Glatteis, das ein Auto weiter vorn auf der Straße meldet. Der 5G-Mobilfunkstandard ermöglicht direkte Verbindungen zwischen Autos ohne de Umweg über den Mobilfunkprovider. Damit werden automatisches Überholen oder Platooning – virtuelles Zusammenschließen mehrerer Fahrzeuge zu einem Zug – möglich. Ein weiteres Szenario: Lkws übertragen das Bild der Straße vor ihnen auf das Head-Up-Display des Nachfolgenden, so dass der LKW quasi durchsichtig wird.

Als neues Mitglied der Volkswagen-Gruppe hatte VW Infotainment kein Datenverwaltungssystem. Es zeigte sich, dass VWs PDM-System nicht passte, weil sich die schnellen Innovationszyklen der Elektronik und der Software nicht abbilden ließen. So entschied man sich für die 3DEXPERIENCE, weil die passende Lösung quasi out-of-the-box verfügbar, das System einfach zu erlernen und der Preis attraktiv war. Das System ist voll mit VWs Catia-Daten und Zukens ECAD-Lösung integriert und dient als Verwaltungslösung für alle Daten bei Volkswagen Infotainment.

 

img_508311:00: Dominic Kurtaz von 3DEXCITE spricht über Marketing im Zeitalter der Digitalisierung. Wie immer bringt die ehemalige RTT einen extrem schönen Imagefilm mit. Er beklagt “Lazy Communication”, die mit Smartphones Einzug gehalten hat. Weil Kommunikation so einfach ist, wird weniger Mühe darauf verwendet und Rückfragen sind notwendig. Ein zweiter Punkt ist, dass Kunden heute oft sehr genau recherchieren und damit die Erfahrung beim Kauf enttäuschend ist, weil sie genauer wissen, was sie möchten, als der Verkäufer. Digital Continuity ist der Ausweg: Man informiert den Verkäufer mit einer einfachen Datenübertragung vom Smartphone von seinen Vorstellungen, vielleicht sogar schon inklusive der Konfiguration beispeilsweise eines Autos, die man im Internet schon vorgenommen hat.

In 3DEXCITE fließen zwei Dinge zusammen – auf der einen Seite die Produktdaten aus der 3DEXPERIENCE, auf er anderen Seite die Retail- und Visualisierungsfunktionen der ehemaligen RTT und heutigen 3DEXCITE. Als besonders gutes Beispiel für einen Konfigurator verweist Kurtaz auf die Opel-Website. Eine interessante Vision von Digital Retail findet sich hier.

Die Vision, die Kurtaz beschreibt, umfasst die Tage nach dem ersten Besuch beim Händler: individualisierte elektronische und Papier-Broschüren und Filme genau des Autos, das ich konfiguriert habe statt generischer Prospekte einer Baureihe. Takeaways: Denken Sie an Skalierbarkeit, Daten und konsistente Inhalte, Storytelling und (Massen)-Personalisierung.

 

img_508811:45: Wir sind etwas hinter dem Zeitplan, was niemand stört – die Vorträge heute morgen sind wirklich interessant und kurzweilig. Weiter geht es mit GDC, einem Unternehmen, das die Welt der Geschäftsflugzeuge revolutionieren will. Nigel Garner, Managing Director von GDC Engineering, beschreibt sein Unternehmen: “Wir kombinieren amerikanische Innovation, deutsche Präzision und französisches Design”, beispielsweise für VIP-Flugzeugeinrichtungen. Aktuell überarbeitet GDC die Air Force One. Das Unternehmen hat seine Wurzeln übrigens im deutschen Flugzeughersteller Dornier, deren DO 328 das bislang letzte Verkehrsflugzeug ist, das von einem deutschen Unternehmen komplett in Eigenregie entwickelt und gebaut wurde. Aktuell gibt es Pläne, die 328 in der Jet-Version wieder aufleben zu lassen, in die GDC natürlich involviert ist.

GDC arbeitet mit ENOVIA unter anderem bei der Überarbeitung der Boeing 777 für Digital Mockups und die Planung der Umbauten, die Änderungen an der Elektrik und Elektronik beinhalten. Auch für Airbus arbeitet das Unternehmen. GDC nutzt Catia V6-Daten für die Visualisierung, was große Geschwindigkeitsvorteile bringt.

13:30: Die Mittagspause ist vorbei und Mark Alexander Schulte, Senior Consultant bei IDC Central Europe wird nun die Teilnehmer mit einer Studie zum Industrie 4.0-Status der deutschen Industrie informieren. Die Industrie und die Unternehmen sind in einem grundlegenden Wandel, den IDC die 3. Plattform nennen. Diese Plattform wird gekennzeichnet durch vier Megatrends: Cloud Computing, Data Analytics, Social Business und Mobile. Das Thema Digitale Transformation hat – zumindest in den Großkonzernen – die CEO-Ebene erreicht. Die Studie, in der 200 Firmen, etwa zu gleichen Teilen aus der Großindustrie und dem Mittelstand, befragt wurden, ist die dritte in drei Jahren und kann damit eine gewisse Historie abbilden.

img_5094Interessant: Industrie 4.0-Planung und Pilotprojekte haben innerhalb eines Jahres um 31 Prozent zugenommen, während die Umsetzung solcher Projekte stagniert. Es scheint also nicht einfach zu sein, die Piloten in die reale Unternehmensstruktur zu implementieren.

Henkel arbeitet an smarten und selbstlernenden Robotern für die Verpackung, die mit Menschen direkt zusammenarbeiten sollen, Kompressorhersteller Kaeser verändert sein Geschäftsmodell vom Verkauf von Kompressoren zum Bereitstellen von Druckluft, die Kompressoren verbleiben im Besitz von Kaeser, die Unternehmen bezahlen für die Bereitstellung der Druckluft. Dies erfordert natürlich neue Ideen für die Wartung und den Service der Kompressoren.

55 Prozent der Unternehmen finden, dass zu viel Zeit für den Transport von Informationen zwischen Abteilungen verloren geht, 42 Prozent verlieren Informationen, 45 Prozent sogar Umsatz, weil die Zusammenarbeit zwischen Abteilungen nicht störungsfrei funktioniert. Erst fünf Prozent der Unternehmen haben eine durchgängige Datenbasis durch den gesamten Produktentstehungsprozess vom Design über Engineering und Fertigung bis zum Marketing. Jedes dritte Unternehmen will in den nächsten drei Jahren Wearables und AR/VR in Engineering und Produktion einführen.

img_5092Die Herausforderungen in IT, Produktion und Engineering sind durchaus unterschiedlich, es zeigen sich jedoch Muster: Unter den Top 3 sind bei IT und Engineering die wachsende Komplexität. IT und Produktion sorgen sich um Datensicherheit, während das Thema Finanzieren der Implementierung Produktion und Engineering umtreibt. Die Anzahl der Datensicherheitsprobleme ist alarmierend: 22 Prozent erlebten in den letzten zwölf Monaten  eine Manipulation der Produktion, 19 Prozent sogar eine Unterbrechung.

Doch die Unternehmen sind sich der Thematik bewusst, 57 Prozent der Unternehmen haben einen Industrie 4.0-Beauftragten oder ein entsprechendes Team benannt, 30 Prozent der Firmen schufen in den letzten zwölf Monaten sogar eine neue Stelle zur Bearbeitung dieses Themas.

Best Practices: Henkel involviert in jedem Industrie 4.0-Projekt Mitarbeiter aus der betroffenen Abteilung, um die Akzeptanz zu steigern Schaeffler unterstützt den Wissensaustausch zwischen alteingesessenen Mitarbeitern und Digital Natives, um einen Sinn für die Digitalisierung ins gesamte Team zu bringen. Infineon hat Innovation Center gegründet, in denen Mitarbeiter an neuen Ideen arbeiten können.

Takeaways:

  • Definieren die organisatorische Strukturen für Industrie 4.0,
  • definieren Sie Bereiche, in denen Industrie 4.0 zusätzliche Werte schaffen kann,
  • brechen Sie Datensilos entlang der Prozesskette auf,
  • fördern Sie das Digitalisierungs-Knowhow Ihrer Mitarbeiter und
  • balancieren Sie Sicherheit und Innovation aus, um keine Sicherheitsprobleme zu schaffen.

14:00: Uwe Burk, der den Professional Channel bei Dassault Systèmes Europacentral leitet, stellt Boyan Slat vor, den Gründer und CEO von The Ocean Cleanup. Der 22-jährige Slat will nichts weniger als die Weltmeere von Plastikmüll reinigen. Mit 16 tauchte der Niederländer in Griechenland und sah mehr Plastiktüten als Fische. Das gab den Anstoß, erst ein Schulprojekt und dann ein Unternehmen zu gründen und eine Vorrichtung zu entwickeln, die Plastik mehr oder weniger selbständig von der Wasseroberfläche einsammelt.

Die Daten, wie viel Plastik im Meer schwimmt, sind sehr vage, aber die Zahlen sind in jedem Fall unglaublich hoch. Je kleiner das Plastik zerfällt, desto gefährlicher wird es für die Umwelt: Tiere fressen das Plastik und verhungern, weil der Magen mit Unverdaulichem gefüllt ist. Zudem lagern sich Giftstoffe wie PCB am Plastik ab und gelangen in die Nahrungskette. In einer Expedition zum “Great Garbage Patch” im Pazifik zwischen Hawaii und Kalifornien fand Slat sehr viel mehr große Müllstücke als der Wissenschaft bekannt war – und aus großen Stücken werden in jedem Fall viele kleine Stücke. Letzten Monat nun wurde mit einem Flugzeug eine Reihe von Messungen durchgeführt, um noch genauere Daten zu erhalten.

Slat will einerseits den Eintrag von Plastik verringern, zum anderen die bestehenden Müllwirbel säubern. Das Abfischen mit Booten und Netzen würde 97.000 Jahre dauern – ist also sinnlos. Doch der Müll rotiert in riesigen Wirbeln, und Slat will genau das nutzen: Riesige schwimmende Barrieren sammeln den Müll und konzentrieren ihn so weit, dass er abgeschöpft werden kann. 100km Sperre sind in der Lage, 50 Prozent des Müllwirbels in unter zehn Jahren zu säubern. In etwa einem Jahr soll die erste funktionierende Installation in Betrieb gehen, aktuell werden Tests im Wassertank und mit kleinen Abschnitten auch im Ozean durchgeführt.

Die Barrieren und Sammelstationen werden mit SOLIDWORKS konstruiert. Slat erhielt 2,5 Millionen Euro durch Crowdfunding, wobei interessanterweise die größte Gruppe der Spender aus Deutschland kam. Inzwischen sind viele Unternehmen und auch die niederländische Regierung unter den Unterstützern. Der erste Echtversuch mit zwei Kilometer Sperrlänge im Pazifik kostet 15 Mio. Euro, Slat meinte “Zwei Kilometer Sperre bieten viel Platz für Sponsorenlogos.”

“Wir versuchen ständig, das System noch einfacher zu gestalten, weil das die Zuverlässigkeit erhöht.” Das größte Problem ist die Verankerung der Struktur in über vier Kilometern Tiefe – nicht nur, wie die Verankerung funktioniert, sondern vor allem auch, wie diese Verankerung so einfach und so preisgünstig wie möglich installiert werden kann. Das gesamte System ist passiv, wird also nur von der Strömung angetrieben. Auch das verringert die Fehlerabhängigkeit und die Wartungsanforderungen. Ein Schiff soll das gesammelte Plastik von der Sammelstelle abholen; die Qualität des Materials scheint recht gut zu sein, so dass es recycelt werden kann.

Am Ende des Vortrags ging Andreas Barth im Namen von Dassault Systèmes mit gutem Beispiel voraus und überreichte einen Scheck über 25.000 Euro an Bojan Slat. Natürlich hofft der junge Unternehmer auf weitere Spenden, auch aus dem hochkarätig besetzten Auditorium – und ich wünsche ihm viel Glück dabei.

14:40: Andreas Barth beschließt das 3DEXPERIENCE Forum, zwei Tage geballter Informationsvermittlung zur Digitalisierung sind wieder vorbei. Wenn man einen breiteren Überblick über Vorteile und Herausforderungen der Digitalisierung gewinnen möchte, gibt es wohl kaum eine bessere Gelegenheit als das 3DEXPERIENCE Forum.

Ralf Steck

Blogger und Freier Journalist at EngineeringSpot
Maschinenbau-Ingenieur und freier Fachjournalist in den Bereichen CAD/CAM, Maschinenbau und IT. Blogger, Bastler, 3D-Druck-Enthusiast. Bastelt tagsüber an CAD-Systemen und Rechnern, abends an alten Autos.