Design: Dekoration ist passé

Der April hatte in Sachen Events auch neben der Hannover Messe einiges zu bieten: Design in the Age of Experience in Mailand – ein Erfahrungsbericht von Gastautor Nikolaus Fecht

„A grande plaza di futura di qui“. Hier entsteht also ein großer Platz für die Zukunft, erfuhr ich von meinem Smartphone bei der Taxi-Fahrt zum Milano Congressi (MiCo), Europas größtem Kongresszentrum im Herzen Mailands. Das mobile Internet verriet mir auch, dass die Milanesen das MiCo – wegen seines dank LED-Technik dauernd leuchtenden, schweifförmigen Aluminium-Daches – Komet nennen. Er grenzt an eine gigantische Baustelle, auf der die Baumaschinerie weiter die „plaza di futura“ formt, auf der bereits die ersten irrwitzig-schief geformten Hochhäuser stehen.

Milano Congressi

Im „Kometen“ des Star-Architekten Mario Bellini tagte am 11.-12. April 2016 geballte Crowd-Intelligenz aus der ganzen Welt. Unter dem Leitthema „Design in the Age of Experience“ ging es um neue Denkweisen und Einstellungen: Erfolgreiches Design erfordert nämlich laut Monica Menghini, Executive Vice President und Chief Strategy Officer bei Dassault Systèmes, dass sich Produktdesigner nicht mehr nur am Design, sondern ganzheitlich an vielen Erfahrungen orientieren. Dazu bedürfe es aber einer neuen, kreativen Zusammenarbeit mit den unterschiedlichsten Bereichen und dem Einsatz von Produktinnovationsplattformen, die Informationsquellen aller Art – von der Cloud, dem Social-Network bis hin zu Big Data – nutzen.

John MaedaFür John Maeda, den ehemaligen Präsidenten der renommierten Rhode Island School of Design aus den USA, handelt es sich beim Design längst nicht mehr nur um eine bessere Form der Dekoration, sondern um das kreative Miteinander und Zusammenwirken von Kunst, Technologie und Wissenschaft. Das funktioniere aber nur, wenn es zu einer engen Zusammenarbeit von verschiedenen Temperamenten und Berufen komme. Anhand eines Projektes beschrieb der heutige Partner einer großen amerikanischen Firma für Risikokapital, wie ein Einhorn (Designer) und eine Ninja-Kämpferin (Ingenieurin) gemeinsam einen Bildschirmschoner für Smartphones entwickelt haben.

Das Besondere an derartigen interkulturellen Team-Projekten sei, dass ein Hybrid-Design entstehe, das die Komplexität der Aufgabenstellung verdichte und vereinfache. Doch noch komme die Denkweise nicht überall an. So kommentierte ein älterer Designer Maedas Werke mit den Worten, „schön, aber leer“. Es sei also höchste Zeit, dass man sich vom überladenen Design früherer Zeiten und von dem Irrglauben verabschiede, dass Kunden ein Produkt nur wegen seines schönen Aussehens kaufen. Ähnlich fielen auch die Aussagen anderer Kongressteilnehmer aus, für die Design kein Schönheitswettbewerb ist, sondern eine starke, ganzheitliche Botschaft.

„Design ist Liebe“, fasste SOLIDWORKS CEO Gian Paolo Bassi Maedas Botschaft in Mailand die unterschiedlichen Ansichten von der neuen Ganzheitlichkeit zusammen. „Jede Innovation fängt daher mit den Erfahrungen der Anwender unserer Produkte an, die sich bei uns in einer sehr starken Community wiederfinden.“ Für CATIA CEO Philippe Laufer ist Design vor allem „big“, wie sich beim Blick auf das neue ganzheitliche, digitale Design zeige.

Erste Ansätze dazu hat Dassault Systèmes in den frühen 1990er Jahren gemeinsam mit dem Flugzeughersteller Boeing entwickelt, der damals bereits komplexe Bauteile im Zusammenspiel mit dem gesamten Flugzeugkonzept (Stichwort: Digital Mockup) auf dem Computer entwickelt hat. Diese Vorgehensweise ersparte Boeing bereits vor 20 Jahren das nachträgliche, „stupide“ Anpassen von Einzelkomponenten. Im Release 2016x kommt nun ein neues System auf den Markt, das bereits in der Anfangsphase des Konstruktions-Workflows auf den Endanwender und seine Erfahrungen sowie Wünsche eingeht. Dazu zähle laut Laufer beispielsweise bei einem Automobil der Fahrer und dessen Körperhaltungen, die CATIA Human Design berücksichtigt. Wenn dann das fertige, ergonomische Endprodukt feststehe oder wenn es sich auch noch in einer frühen Phase vor dem „design freeze“ befinde, kann der kreative Konstrukteur mit Hilfe der „Design Review Preparation“ die sogenannte Fertigungsfähigkeit überprüfen. Es komme so Schritt für Schritt zu einem Multi-Disziplin-Design, das auf einer Plattform alle Blickwinkel auf ein Produkt beinhalte.

Doch als echte Revolution bezeichnete der CATIA CEO das Nutzen der vorhandenen Cloud-Infrastruktur, die dem Anwender dank des direkten Zugriffs auf externe Kapazitäten und Daten eine enorme Rechenleistung biete. Laufer: „Das Berechnen des Gewichts und des Schwerpunktes eines rund 140 Tonnen schweren Flugzeuges dauerte mit CATIA als Anwendung der 3DEXPERIENCE Plattform in der Cloudversion 1,6 Sekunden.“

Wie verändern Cloud und Big Data die Arbeitsweise der Designer? „Viele unserer Kunden setzen unsere Lösungen als Cloudlösung ein und erhalten sehr präzise Informationen über das Nutzerverhalten“, antwortete Pascal Daloz, Executive Vice President Brands and Corporate Development. „Das verändert die Art und Weise, wie wir unsere Software entwickeln.“ Experten sprechen daher auch schon vom „Big Design“. Doch das Nutzen von „Big Data“ steht und fällt mit der Analyse, Bewertung und Gewichtung. Hier kommt wieder die Cloud ins Spiel, dank der sich die menschliche Schwarmintelligenz – die sogenannte „crowd creativity“ – leichter anzapfen lässt, um im Sinne von „open innovation“ eine neue Form des Produktdesigns anzugehen. Dazu bietet sich laut Bassi beispielsweise die Plattform der SOLIDWORKS Community mit ihren Millionen Mitgliedern an, die bereits heute Tag für Tag im Informationsaustausch stehen. Es bedürfe nur noch der entsprechenden ordnenden Algorithmen – etwa nach dem Vorbild von Google.

Für President und CEO Bernard Charlès befindet sich Dassault Systèmes daher in einer Welle der Transformation mit „very, very funny moments“. „Wer hätte denn vor wenigen Jahren noch zu denken gewagt, dass eine Firma mit nur zehn Leuten ein Flugzeug mit Hilfe einer Cloud entwickelt und baut?“ fragte Charlès. „Sie ist ein Beispiel für sehr kleine Teams, die nie zuvor gesehene Produkte entwickeln.“

Die Rede ist von der französischen Firma Elixir Aircraft aus Périgny, die einen ultraleichten Zweisitzer (265 Kilogramm) aus Composite-Werkstoffen gebaut hat, der nur 14 Liter pro Flugstunde bei einem maximalen Tempo von fast 300 km/h verbraucht und bis zu sieben Stunden nonstop fliegt – bei einer maximalen Reichweite von rund 1.800 Kilometern. Das Unternehmen bezeichnet das Herstellverfahren auf seiner Homepage als „Aircraft Design for Dummies“ und führt es augenzwinkernd auch als Youtube-Video vor. Das Geheimnis besteht – so CEO und Gründer Arthur Léopold-Léger – im Einsatz der 3DEXPERIENCE Plattform on the Cloud, dank der sich das nach eigenen Angaben weltweit erste Cloud-Flugzeug ohne Probleme in Sachen Datenkompatibilität oder -organisation entwickeln ließ. Léopold-Léger: „Wir benötigen noch nicht einmal eine eigene IT-Abteilung, da alle Daten auf einem sehr sicheren Server von Dassault Systèmes gespeichert werden.“ Für die Pioniere von morgen ist die „grande plaza di futura“ nicht mehr nur eine reale Baustelle, sondern eine Cloud.

 

Bildrechte:

Foto des MiCo: Philips Lighting Italy

Foto des Vortrags: Nikolaus Fecht

Nikolaus Fecht

Nikolaus Fecht (62): Der mehrfache Publizistikpreisträger und Dipl.-Ingenieur (Elektronik) hat sich einen Namen gemacht mit Fachartikeln, Satiren, Glossen, Kommentaren, Bücher und Märchen rund um Technik aller Art. Entsprechend vielfältig fällt die Schar seiner Auftraggeber aus: Sie reicht von Fachverlagen, Industrie, Fraunhofer Instituten, Verbänden bis hin zu populärwissenschaftlichen Magazinen (Bild der Wissenschaft). Privat entspannt sich der Wahlgelsenkirchener und Vater von Zwillingen als Amateur-Schauspieler (u.a. Impro-Theater). Foto: Ralf Baumgarten

Latest posts by Nikolaus Fecht (see all)