Ein Herz schlägt im Computer – Das Living Heart Project

In technischen Branchen ist die Simulation schon weit verbreitet – unter anderem in der Automobilbranche, wo ein neues Modell schon weit vor dem ersten physikalischen Prototypen von der Verbrennung im Motor über die Anmutung des Innenraums bis zur Bedienung und dem Fahrkomfort durchsimuliert wird. Andere Bereiche der Wissenschaft könnten ebenfalls von Simulationstechnologie profitieren, sie beginnen sich jedoch erst nach und nach durchzusetzen. Ein Beispiel ist die Medizin. Dassault Systèmes unterstützt mit dem Living Heart Project eine Pilotanwendung in diesem Bereich.

3ds-archive_image-6-2015_HeartSeit Jahrzehnten arbeitet Dassault Systèmes, die 3DEXPERIENCE Company, in vielen Branchen daran, dass Firmen nachhaltigere Innovationen erdenken und liefern können, die in der Lage sind, Produkte, die Natur und das Leben miteinander in Einklang zu bringen. Zu den Erfolgen unserer Kunden beim Entwickeln und Herstellen von Dingen jeder Art vom Jumbo-Jet bis zur Rasierklinge hat leistungsfähige Computer Aided Engineering (CAE)-Technologie entscheidend beigetragen. Mit ihrer Hilfe konnten diese Kunden ihre Prozesse weiterentwickeln, um effizientere, kosteneffektivere, sicherere und leichter verwendbare Produkte und Lösungen herzustellen.

Allerdings sind manche Branchen bei der Einführung von CAE zurückgeblieben, zum Teil wegen eines Mangels an genauen Modellen, akzeptierten Prozessen und allgemein verfügbaren Standards. Stattdessen blieb ihr CAE-Einsatz auf einzelne Forschungseinrichtungen auf der ganzen Welt beschränkt. So fragen wir also: Wenn wir die Welt um uns herum durch Simulation verändern, ist es nicht an der Zeit, die Welt in uns zu verbessern? Wenn wir Ärzten dieselbe Simulationstechnologie zur Verfügung stellen, die andere Berufe seit Jahrzehnten einsetzen, um Produkte vor ihrer Herstellung virtuell zu entwerfen, zu testen und zu validieren, könnten wir damit auch das Leben von Patienten verändern?

Inzwischen ist klar, dass die Anwendung dieser Technologie in der Medizin tiefgreifende Konsequenzen für unsere Gesellschaft hat: Sie bietet die Möglichkeit, die Grundlagen dieses Fachgebiets von der Beobachtung auf wirkliches Verstehen zu transformieren.

3ds-artikel-Simulia-Living-Heart_3Kardiovaskuläre Erkrankungen sind weltweit die Todesursache Nummer eins. Sie sind für 30 Prozent aller Todesfälle verantwortlich und verursachen beispielsweise in den USA Kosten von über 400 Milliarden Dollar pro Jahr. Gleichzeitig werden Medizinprodukte im Gegensatz zu Medikamenten vor der Markteinführung kaum getestet, weil diese Tests sehr schwer durchzuführen sind – man kann Menschen ja nicht als „Versuchskaninchen“ missbrauchen. Trotz aller Bemühungen der Branche werden in den USA 95 Prozent aller neuen Medizinprodukte zugelassen, ohne jemals am Menschen getestet worden zu sein.

Die für solche Tests und andere Einsatzszenarien in der Medizin erforderliche Technologie ist komplex, doch die Vision und der Bedarf sind klar, und viele Forscher und Medizintechnik-Hersteller haben damit begonnen, CAE-Technologie zu nutzen. So setzt FEops, eine realistische Simulation dafür ein, das Verhalten von Stents vorherzusagen. Damit stellen sie Chirurgen und Entwicklern kardiovaskulärer Vorrichtungen ein Werkzeug zur Verfügung, mit dem sich chirurgische Verfahren präoperativ visualisieren lassen. Das Grundproblem jeglicher Simulation ist jedoch, dass dazu ein realistisches Simulationsmodell des menschlichen Körpers und seiner Organe zur Verfügung stehen muss – bisher stützen sich solche Modelle eher auf Annahmen als auf eine genaue visuelle Darstellung des betreffenden Organs.

Man stelle sich also virtuelle menschliche Modelle vor, mit denen man neue Medizinprodukte in Ergänzung zu Versuchen am Menschen zuverlässig testen kann – oder zuverlässig feststellen kann, wann ein solcher Versuch unnötig ist. Man stelle sich die Innovation vor, die dies auslösen, und die Kosten, die dies ersparen kann. Man stelle sich weiterhin vor, man sei in der Lage, aus den Daten der Scans eines Patienten ein 3D-Modell seines schlagenden Herzens zu erzeugen. Vor einem invasiven Vorgang könnte man virtuell einen Stent oder eine Klappe in das individuelle Herzmodell einbringen und die Reaktion des Körpers simulieren. Ist die gewählte Klappe zu groß oder zu klein? Ist der Vorgang überhaupt nötig? Wird sich das mechanische Verhalten des Herzens ändern? Wie wird der Blutstrom beeinflusst? Welche Medikation ergänzt den Vorgang am besten?

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Das ist das Ziel des „Living-Heart-Projekts“, einer von Dassault Systèmes im Januar 2014 gestarteten übernationalen Initiative zur Entwicklung maßgeblich realistischer Simulationen des menschlichen Herzens in Partnerschaft mit der medizinischen Fachgemeinschaft. Die Einführung von Simulation in einer Branche geht praktisch immer von einer engagierten Gruppe von Firmen und Institutionen aus. In der Medizinsparte bedeutet das, dass sich Mitglieder aus den Bereichen Forschung, Medizin, Hersteller und Gesetzgeber zusammentun und ihre Fachkompetenzen bündeln müssen, um Standard-Computermodelle für das Verhalten des Herzens zu entwickeln, die eine präzisere Darstellung des lebendigen Herzens bringen als die bereits vorhandenen Herzsimulationen. Von drei Teilnehmern, die sich zum Start im Januar 2014 zusammengefunden hatten, ist das Projekt inzwischen auf 35 Mitglieder angewachsen, darunter die US-amerikanische Food and Drug Administration (FDA).

Durch diesen Crowd-Sourcing-Ansatz konnte bereits im ersten Jahr des Projekts das erste für den kommerziellen Einsatz geeignete Simulationsmodell des menschlichen Herzens produziert werden. Über 35 beitragende Mitgliedsorganisationen haben an Aufbau und Validierung des Modells mitgearbeitet. Noch nie zuvor hatte eine so vielfältige Expertengruppe Zugang zur Nutzung und Evaluierung desselben Simulationsmodells. Weitere notwendige Dynamik brachte die FDA dem Projekt: Die Behörde hat eine Forschungsvereinbarung mit fünfjähriger Laufzeit unterzeichnet, die die Entwicklung von Test-Paradigmen für die Implantierung, Anordnung und Leistung von Schrittmacher-Anschlüssen und anderen kardiovaskulären Vorrichtungen zur Behandlung von Herzerkrankungen zum Ziel hat. Damit ist die Hoffnung verbunden, nicht nur den Zulassungsprozess für neue Medizinprodukten für das Herz, sondern auch die Innovation bei deren Entwicklung und Herstellung zu beschleunigen. So soll Patienten ein größeres Gefühl der Sicherheit und Selbstbestimmung vermittelt werden, wenn es um ihre Gesundheit geht. Im Video auf der Dassault Systèmes Webseite bekommt man einen ersten Einblick in die Möglichkeiten des Projekts.

Die Tochter von Steve Levine, Chief Strategy Officer bei Dassault Systèmes SIMULIA und Direktor des Living-Heart-Projekts, wurde mit einem schweren Herzfehler geboren und benötigte von ihrem zweiten Lebensjahr an eine Vielzahl von Herzschrittmacher-Operationen. Angesichts der Besonderheit ihres Leidens hat sich ihr Kardiologe bereits an das Living-Heart-Projekt gewandt. Als sie mit zwei Jahren ihren ersten Herzschrittmacher erhielt, erklärte der Chirurg, sie hätte vielleicht keine Chance für ein normales Leben gehabt, wäre sie nur 15 Jahre früher geboren worden – ohne Zweifel ein Geschenk. Dennoch musste Levine zusehen, wie das Ärzteteam gezwungen war, an ihrem jungen Körper experimentierte um herauszufinden, wie sich die neueste Technologie am besten einsetzen ließe. Das dauerte stets Stunden, manchmal Tage und setzt sich bis heute fort. Über die Jahre hat sich in ihrem Körper eine ganze Anzahl gebrochener Schrittmacher-Drähte angesammelt, die ausgefallen waren, als sie versuchte, ein normales Leben zu leben. Diese sind jetzt zu einem nutzlosen und sehr unwillkommenen Teil ihrer Anatomie geworden. Noch kein Kind hat bisher ein ganzes Leben mit solchen Geräten gelebt, daher bleibt die Zukunft vollkommen unbekannt. Wir hoffen, dass sie, ihr Ärzteteam und zahllose andere durch das Living-Heart-Projekt in ganz naher Zukunft eine sehr andere Erfahrung machen werden.

Doch das Living Heart-Project und weitere Projekte aus dem Medizinbereich haben auch Auswirkungen auf andere Branchen. Ein realistisches Simulationsmodell des Körpers wäre in der Automobilindustrie sehr willkommen, um die bis heute relativ groben Crashtestdummies zu ersetzen. Stattdessen könnten die Hersteller genau ermitteln, was bei einem Unfallablauf mit all den verschiedenen Teilen des menschlichen Körpers sowie seinen Organen passiert. Das würde einen weit besseren Einblick darin geben, wie sich das Verhalten eines Autos während eines Unfalls verbessern ließe. Außerdem könnten die Hersteller das Modell so parametrisieren, dass sie wesentlich mehr Fahrer- und Mitfahrerprofile berücksichtigen könnten als bisher.

Wir haben das Wissen hierfür, aber haben wir auch den Willen? Stellen Sie sich die Vorteile für die Menschheit vor, wenn wir als medizinische Fachgemeinschaft diese Grenzen erweitern. Mit dieser Technologie können wir nicht nur den Prozess und die Patientenversorgung allgemein verbessern, sondern auch einzelnen Patienten bei ihrer Behandlung mehr Selbstbestimmung verschaffen, und wir hoffen, andere Teams dazu anregen zu können, dem Beispiel zu folgen.

 

Narayan is Chief Operations Officer at satsearch, chiefly responsible for helping buyers find the right products and services for their mission or service through the global marketplace. Narayan holds a PhD in Supply Chain Management from the University of Erlangen-Nuremberg and previously served as an Associate Research Fellow at the European Space Policy Institute where he contributed to enhancing cooperation between Europe and India in space.