Die Zeiten einfacher Entwicklungen sind vorbei, sagt die Titelstory des aktuellen Compass Mag. Und das gilt besonders in den Bereichen Medizin und Life Sciences . Inzwischen kostet die Entwicklung eines neuen Medikaments 1,2 bis 1,8 Mill. Dollar und bis zur Marktreife dauert es acht bis zwölf Jahre –ohne Garantie für den Erfolg des Produkts. Neue IT-Methoden sollen helfen, die Entwicklung zu beschleunigen, schneller erfolgreich zu sein und weniger teure Irrwege gehen zu müssen.
Ein Kernproblem ist, dass die Aufgabenstellungen in der Medizin immer komplexer werden, die „niedrig hängenden Früchte der Medizin“, wie es der Autor ausdrückt, bei weitverbreiteten Krankheiten sind abgeerntet. Was bleibt, ist die Forschung an hochkomplexen Krankheiten wie Alzheimer oder an wenig verbreiteten Krankheiten wie Multipler Sklerose. In beiden Fällen ist es schwierig, die teure Forschungs- und Entwicklungsphase durch den Verkauf der Medikamente gegenzufinanzieren. Das zwingt die Forscher, zukünftig noch effizienter vorzugehen und ihre Prozesse zu überdenken. Und genau hier sollen moderne Softwarewerkzeuge zum Einsatz kommen. Liest man den Artikel nun einmal mit der Brille des Maschinenbaukonstrukteurs, fallen zwei Dinge auf – einerseits könnte die Medizin von der Entwicklung in der Produktentwicklung lernen, wo aus Inseln oder Silos Prozessketten wurden. Andererseits ist die Idee, nicht nur Erfolge, sondern auch Irrwege zu dokumentieren, sehr bedenkens- und nachahmenswert.
Wenn schon die Entwicklung eines erfolgreichen Medikaments oder Produkts sehr teuer ist – ähnliche Probleme kennt ja auch der Maschinenbau – dann sollte es doch möglich sein, die Kosten für Irrwege möglichst gering zu halten. Oft sehen bestimmte Entwicklungen ja zunächst vielversprechend aus, und es zeigt sich erst spät im Prozess, dass sie sich aus bestimmten Gründen nicht umsetzen lassen. Dann ist im schlimmsten Fall schon viel Zeit vergangen und viel Geld ausgegeben. Eine Abhilfe, die im Medizinbereich mit dem sogenannten Elektronischen Laborjournal auf den Plan trat, ist die Dokumentation dieser Irrwege.
Aber was heißt das genau? Heute wird der Entwicklungsprozess – beispielsweise mit PLM-Systemen, die es ermöglichen, die Daten und deren Versionen zu verwalten – penibel dokumentiert, allerdings trifft dies nur auf die gelungenen Entwicklungsschritte zu; oft wird sogar nur der Endstand festgehalten. Im Rückblick sieht eine solche Entwicklungsdokumentation völlig linear aus, wie ein gerader Strang. In Wirklichkeit hingegen sieht ein Entwicklungsprozess aus wie der Rheinverlauf vor der Begradigung durch Tulla: Schlingen, Verzweigungen, tote Arme, Stromschnellen, langsames und schnelles Voranschreiten.
Diese toten Arme sind jedoch nicht nutzlos, denn auch beim Beschreiten eines Wegs, der nicht weiterverfolgt wird, gewinnt man Erkenntnisse – und sei es nur, dass die verfolgte Lösung so nicht möglich ist. Beim Herausarbeiten der Gründe, warum eine Lösung nicht möglich ist, ergeben sich oft wertvolle Erkenntnisse über die Randbedingungen des Produkts. Ändern sich diese Randbedingungen, beispielsweise wenn ein ähnliches Produkt entwickelt werden soll, könnte eine solche verworfene Lösung plötzlich wieder im Rennen sein. Oder eine grundsätzlich preiswerter zu produzierende Lösung wird verworfen, weil der aktuelle Maschinenpark nicht in der Lage ist, das Teil zu fertigen. Wird eine neue Maschine angeschafft, kann diese Lösung – wenn sie dokumentiert ist – sehr schnell umgesetzt und der Kostenvorteil realisiert werden.
Eine Voraussetzung dafür, die Erfahrungen aus verworfenen Lösungen nutzen zu können, ist die entsprechende Unternehmenskultur. Muss der Mitarbeiter fürchten, dass seine „Irrwege“ eines Tages gegen ihn genutzt werden könnten, wird er immer dazu tendieren, diese zu verschweigen. Werden die verworfenen Lösungen dagegen gemeinsam im Team dokumentiert, analysiert und bewertet und herrscht generell eine Kultur der Zusammenarbeit und des Teilens von Informationen, fällt es dem Mitarbeiter leichter, sein Wissen nicht im eigenen Kopf zu speichern, sondern im Sinne des Wissensmanagements in einem entsprechenden System niederzulegen. Dann entsteht eine Wissensbasis, die hilft, den Entwicklungsprozess immer effizienter zu machen. Eine sinnvolle, umfassende Dokumentation des Entwicklungsprozesses, die alle Zweige des Entwicklungsbaums umfasst, sowie eine Firmenkultur, die Irrwege und Fehlentwicklung nicht als Übel und Zeitverschwendung, sondern als Teil des Entwicklungsprozesses versteht, können somit erheblich Kosten und Zeit sparen.