Die Rolle und das Selbstbewusstsein der Simulationsexperten ändern sich – das zeigte schon das Intro-Video bei der SIMULIA Community Conference (SCC), die diese Woche in Berlin stattfand. War die Simulation früher in vielen Fällen ein nachgelagerter Teil des Produktentwicklungsprozesses, bringen sich die Simulationsexperten heute aktiv und früh in diesen Prozess ein.
SIMULIA-CEO Scott Berkey begrüßte im Kongressbereich des Berliner Intercontinental-Hotels über 650 Teilnehmer, die diesjährige Ausgabe der SIMULIA-Anwenderkonferenz war damit die größte ihrer Art. Über 90 Kundenpräsentationen, mitreißende Keynotes, lehrreiche Workshops und technische Sessions erwarteten das Fachpublikum, das die Pausen ausgiebig zum Networking nutzte.
Der Saal füllt sich: Über 650 Teilnehmer fanden sich zur Simulia Community Conference in Berlin ein.
Simulation entwickelt sich weiter, das war die wichtigste Erkenntnis der drei Tage in Berlin. Diese Entwicklung umfasst nicht nur die Breite und Tiefe des Anwendungsgebiets, sondern vor allem die Stellung im Prozess. Simulation dient bis heute in vielen Fällen vor allem der Absicherung und Validierung von Konstruktionen und wird dementsprechend oft erst in einem späten Stadium des Entwicklungsprozesses eingesetzt. Doch dies ändert sich radikal: Mit Systems Engineering und Optimierungstools wie TOSCA wird Simulation zum integralen Bestandteil der frühen Entwicklungsphase und damit tatsächlich zu einem Innovationswerkzeug.
Wie sehr Dassault Systèmes auf Simulation setzt, wurde unter anderem in der Keynote von Dassault Systèmes-CEO Bernard Charlès und in SIMULIA-CTO Bruce Engelmanns Vortrag am Ende des ersten Tages deutlich. Die Matrix, die Bernard Charlès in seinem Vortrag zeigte, machte deutlich, dass das SIMULIA-Portfolio in zwei Richtungen wächst: Zum einen deckt es immer mehr Bereiche, wissenschaftliche Disziplinen und Branchen ab; unter anderem wurde auf der Konferenz eine Partnerschaft mit CST bekanntgegeben, die Software für die elektromagnetische Simulation in das Portfolio einbringen.
Die andere Wachstumsrichtung nannte Charlès „multi-scale“: Es wird möglich, von der atomaren Ebene bis zu Systemen von Systemen zu simulieren. Am unteren Ende der Skala findet sich die chemische Simulation, in der beispielsweise die Zusammensetzung der Gummimischung eines Reifens entwickelt wird. Aus dieser Mischung lassen sich dann die Eigenschaften des Materials und dessen Verhalten berechnen. Die nächste Stufe wäre dann der Aufbau des Reifens mit verschiedenen Gummimischungen und Gewebelagen. Im Makrobereich wird der Reifen zu einem Teil eines virtuellen Autoprototyps, hier wird das Zusammenspiel mit der Achse und Federung simuliert. Das Verhalten des Fahrzeugs auf der Straße und schließlich das Einbetten des Fahrzeugmodells in das virtuelle Abbild einer Stadt führen dann zum größten Maßstab der Simulation.
Was am einen Ende dieser Skala die auf der Übernahme von Accelrys basierende Geschäftseinheit BIOVIA in das Portfolio einbrachte, findet sein Gegenpart am anderen Ende in GEOVIA und der 3DEXPERIECity. Die Harmonisierung von Leben, Natur und Produkt ist das Ziel, ein gutes Beispiel dafür ist das Living Heart Project, das als Proof of Concept auf der SCC 2013 vorgestellt wurde. In diesem Jahr konnte Dassault auf der SCC die Verfügbarkeit des Living Heart als Produkt verkünden. Diese sehr tiefgreifende Simulation eines schlagenden menschlichen Herzens wird inzwischen von der US-Behörde FDA als Basis für die Zertifizierung von medizinischen Produkten wie Kathedern oder Stents empfohlen.
Einer der Eröffnungssprecher war Dominique Moreau, Vice President Airframe Technical Authority bei Airbus. Er zeigte, wie wichtig die Simulation bei der Entwicklung eines revolutionären Flugzeugs wie dem A350XWB ist, bei dem 50 Prozent der tragenden Struktur und erstmals auch der Rumpf aus Composite-Material bestehen. Die gezeigten Beispiele waren sehr beeindruckend, beispielsweise zeigte Moreau eine Zeitlupe eines Vogelschlagtests an einem Triebwerk und legte die Simulationsergebnisse aus SIMULIA darüber – die Übereinstimmung war verblüffend.
Ein wirklich beeindruckendes Projekt bei Airbus ist die Komplettsimulation eines Flugzeugs. Dieses detaillierte Modell, an dem alle Arten von Berechnungen durchgeführt werden, besitzt 60 Mio. Freiheitsgrade, Moreau hält bis zu 100 Mio. Freiheitsgrade für technisch machbar.
Einen sehr vergnüglichen Vortrag präsentierte Dr. Martin Hilchenbach vom Max-Planck-Institut für die Erforschung des Sonnensystems. Er war für die Simulation des Philae-Landers verantwortlich, der zu Beginn des Jahres auf dem Kometen Tschurjumow-Gerassimenko landete. Eine besondere Schwierigkeit dabei war die lange Reisedauer von zehn Jahren – vor allem, als sich kurz vor dem Start der Mission zeigte, dass der Komet eine zwar sehr geringe Schwerkraft besitzt, aber diese doch mehr als doppelt so hoch ist wie ursprünglich vermutet. So musste die Mission stark modifiziert werden – die Hardware war schon auf der Rakete montiert. Hierbei setzten Hilchenbach und seine Kollegen Simulation ein, um den Lander so weit abzubremsen, dass er nicht zerschellt, aber eben auch nicht wieder vom Kometen abprallt.
Die technischen Vorträge gingen oft sehr in die Tiefe – die Besucher des letzten Jahres hatten dies in ihrem Feedback angeregt. So sah man allenthalben Powerpoint-Folien voller komplexer Formeln und bekam tiefe Einblicke in die Funktionsweise der Simulationssoftware. Im Multibody Simulation Forum zeigten beispielsweise die Mehrkörpersimulationsexperten von Simpack, wie die Software die Freiheitsgrade großer Modelle so weit reduziert, dass Prototypen in Echtzeit simuliert werden können, ohne dass die Simulation zu oberflächlich wird.
Product Update-Sessions präsentierten unter anderem neue Nutzerrollen in der 3DEXPERIENCE, Anwendervorträge zeigten, wie SIMULIA in der Praxis eingesetzt wird. Die regen Gespräche in den Pausen und in der Ausstellungshalle zeigten, wie engagiert die Besucher waren und wie anregend die Vorträge. Die nächste SCC wird sicher wieder einen Besucherrekord vorweisen können.