Systeme unter Systemen – Digitalisierung verlangt agiles Management

Nicht nur in der Wissenschaft lässt sich vortrefflich über die Definition der Begriffe Digitalisierung und digitale Transformation streiten. Auch in der Industrie und in der Fachpresse herrschen noch unterschiedliche Auffassungen darüber, welcher der beiden Begriffe welche Elemente abdeckt, wo es um reine Daten aus analoger und digitaler Welt geht und wo und ab wann Strategien und Führungskonzepte mit einspielen (müssen).

agil und vernetztKlaus Löckel, Managing Director EuroCentral bei Dassault Systèmes brachte bei seiner Begrüßungsrede anlässlich des 3DEXPERIENCE Connect noch zwei weitere Begriffe aus diesem Kontext auf die Agenda: agil und vernetzt. Und dabei ging es nicht darum, das Thema noch komplexer zu gestalten, sondern damit traf er ziemlich genau den Kern dessen, was jetzt für die Entscheidungsebene in der Industrie im Zusammenhang mit der digitalen Transformation auf der Tagesordnung steht. „Agilität,“ sagt Löckel „das trifft vor allem die Prozesse und zwar längst nicht mehr nur in der Softwareentwicklung.“ Wachsende Multi-Disziplinarität, viele verschiedene Schnittstellen und immer mehr digitale Elemente und Software in physischen Produkten, das fordert von den Unternehmen ganz andere Herangehensweisen an Projekte als sie in der klassisch funktionalen Aufstellung möglich sind. Um agiles Projektmanagement führe beinahe kein Weg herum, meint Klaus Löckel. Die Vernetzung betreffe vor allem Produkte, so Löckel weiter. Gemeint sind damit vernetzte Funktionen und Embedded Systems, beispielsweise in der Automobilindustrie. Aber auch ganz generell nimmt die Verbindung von Produkten und digitalen Consumer Services zu. Damit müssen dann auch Wissen, Daten, Menschen und Systeme verbunden werden. Eine enorme Aufgabe also für die Ausgestaltung zukünftiger Geschäftsmodelle.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch der Bogen, den mein Vortrag auf Basis meines Buches „Das Gespinst der Digitalisierung“, von der digitalen zu den anderen Menschheitsrevolutionen spannt. Enge Zusammenarbeit großer Teams von Spezialisten – das gab es schon kurz nach der Eiszeit, als die Menschheit von Jagen und Sammeln zu Ackerbau und Viehzucht wechselte. Regelrechte Tempel mit etliche Meter hohen steinernen ‚Göttern‘ voller Skulpturen wurden erst 1995 in der Südtürkei entdeckt. Gebaut wurden sie etwa 10.000 vor Christi Geburt. Natürlich war die Zusammenarbeit seinerzeit komplett analog, aber die Konzepte erfolgreicher Projektarbeit in Sachen Koordination und Vernetzung mussten schon damals funktionieren. Sonst wäre ein solches Projekt nicht zu stemmen gewesen. Jetzt sind wir nach der industriellen Revolution vor 250 Jahren so weit, dass wir mit der digitalen Revolution jedes Ding auf der Erde vernetzen und zum Knotenpunkt neuer Dienstleistungen machen können. Das erfordert wiederum ein anderes Denken und ganz andere, interdisziplinäre Zusammenarbeit und Vernetzung unter den Ingenieuren.

In diesem komplexen Themenfeld arbeitet Prof. Dr. Vahid Salehi, Leiter des Instituts für Engineering Design of Mechatronik Systems and PLM an der Hochschule München. Auch er sprach beim 3DEXPERIENCE Connect Abend zu Systems Engineering und gab mit seinem Impulsvortrag einen kurzen, aber tiefen Einblick in die Forschung in Sachen Mobilität der Zukunft. Ein gutes Beispiel für Komplexität und Vernetzung von Produkten und Services und damit für den Wandel, der gerade die gesamte Industrie erfasst. Es stellt sich die Frage, wie wir dieser neuen Komplexität Herr werden können. Kann modelbasiertes Systems Engineering dabei die Antwort sein? Am Beispiel der Automobilindustrie gesprochen lässt sich auf jeden Fall sagen, dass z.B. fortgeschrittene Fahrerassistenzsysteme ohne MBSE weder zu entwickeln noch abzusichern sind. Und ohne Sicherheit sind die neuen Assistenzsysteme eben wiederum nichts. Umso autonomer Fahrzeuge werden sollen, umso komplexer wird die Entwicklungsaufgabe. Diese Thematik geht die Hochschule München als Partner im Projekt SAVe (Funktions- und Verkehrs-Sicherheit im Automatisierten und Vernetzten Fahren) mit Audi in Ingolstadt an. Der digitale Zwilling der ganzen Stadt soll dort zusammen mit den digitalen Zwillingen der Fahrzeuge eine Simulation ermöglichen, die eine moderne Mobilität möglich und sicher macht.

Die Transformation, in der sich die gesamte Industrie auf dem Weg dahin befindet, erfordert nicht nur andere Prozesse und den optimierten Einsatz der besten Tools, der Cloud und der Künstlichen Intelligenz. Das Management selbst muss die Herausforderung als Chance für den Wandel begreifen, und es muss ihn selbst anführen hin zu der nun verlangten Agilität und Vernetzung. Change Management ist nicht mehr eine Randaufgabe, die man delegiert. Es wird der Kern des Managements überhaupt. Systems Engineering, Geschäftsmodelle für produktbasierende Dienste, digitale Prozesse und dazu passende Organisationsstrukturen – es gibt erheblich mehr zu tun als die richtigen Tools besser als bisher einzusetzen.

Und natürlich gibt es deshalb auch enormen Gesprächsbedarf. Wie am 24. Juli zum Thema “Systems Engineering” bietet die 3DEXPERIENCE Connect Reihe von Dassault Systèmes in kleinem Rahmen immer wieder Raum für die Diskussion in den Managementzirkeln. So beschäftigt sich die kommende Abendveranstaltung am 4. November 2019 mit dem Thema “Smarte Produktion” und den Herausforderungen und Möglichkeiten von KI im produzierenden Gewerbe.

 

Vielen Dank an Ulrich Sendler für diesen Gastbeitrag!

Ulrich Sendler

Ulrich Sendler ist seit 1989 unabhängiger Journalist, Buchautor, Technologieanalyst und Redner im Umfeld virtueller Produktentwicklung und Digitalisierung. Er ist Autor von mehr als 15 Büchern und einer großen Zahl von Artikeln und Aufsätzen in unzähligen Zeitschriften. Ulrich Sendler ist zudem Gründer und Organisator des sendler\circle, einer Interessengemeinschaft der Anbieter von Software und Services für die Industrie, Herausgeber des Nachrichtenportals https://www.plmportal.org und Keynote-Sprecher zu Industrie 4.0 in Europa, China und Taiwan.