Vernetzte Produkte verlangen von den Unternehmen nicht einfach nur den Umgang mit mehr Varianten, sondern neue Arten der Problemlösung und ein Denken in Systemen. Wir sprachen mit Prof. Dr. Vahid Salehi von der Hochschule München zur Zukunft von PLM-Systemen und dem modellbasierten Systems Engineering.
Herr Prof. Salehi, bevor wir ins Thema einsteigen, geben Sie uns doch bitte einen kurzen Überblick zu Ihrem Hintergrund:
Prof. Salehi: „Ich habe Fahrzeugtechnik an der Hochschule München studiert. Danach folgte ein MBA mit Schwerpunkt Wirtschaftlichkeitsanalysen von CAD-PDM/PLM Systemen. Auf der Basis habe ich mich im Rahmen meiner Promotion in England mit der methodischen und systemtechnischen Entwicklung von CAD Systemen beschäftigt.
Meine berufliche Laufbahn habe ich als Prozessingenieur bei der BMW AG im Bereich parametrischer Konstruktion in der Antriebsentwicklung begonnen. Hier habe ich aktiv den Einsatz neuer CAD und PDM Systeme im Bereich der Entwicklung von Ottomotoren gestaltet. Danach wechselte ich in die Strategiehauptabteilung der Konzernzentrale und leitete dort unter anderem die Strategieentwicklung von alternativen Antrieben, CO2 und Verbrauchsgesetzgebungen.
Im Jahr 2013 folgte dann der Ruf an die Hochschule München als Professor für mechatronische Produktentwicklung und PLM. Dort leite ich aktuell mit viel Freude das Institut für Engineering Design of Mechatronic Systems, unser Schwerpunkt liegt dort unter anderem auf dem Model Based Systems Engineering.“
Und nach diesem Blick in beide Welten, Industrie und Hochschule, wie nah liegt beides aus Ihrer Sicht zusammen? Wie ist der Stand in der Hochschulausbildung und woran arbeiten Sie in der Forschung?
Prof. Salehi: „Es gibt drei Themenschwerpunkten bei der mechatronischen Produktentwicklung und hier arbeiten und forschen wir auch sehr nah an den Realitäten der Industrie. Das Model Based Systems Engineering (MBSE) ist für uns der methodische Überbau. Hier geht es wirklich um die Art des Entwickelns und des Denkens in Systemen.
Mit dem Product Lifecycle Management (PLM) haben wir die technologische Grundlage. Angefangen haben wir hier an der Hochschule einmal ganz klassisch mit den Anwendungen CATIA und SOLIDWORKS. Dann sind wir auf die 3DEXPERIENCE Plattform gegangen. Dadurch haben wir jetzt den Vorteil, dass wir Projekte in Gruppenarbeit durchführen können. So wird Concurrent Engineering real umgesetzt. Die Studierenden haben die Möglichkeit, sich selbst zu organisieren, miteinander zu kommunizieren und rollenbasiert ihre Stärken in die Projektarbeiten einzubringen.
Meinen Studenten eine effektive Arbeitsweise beizubringen, mit ihnen in der Forschung für die Lehre immer wieder einen Schritt weiterzukommen, darin sehe ich meine Aufgabe. So bereiten wir die Talente von morgen eben sehr nah am Arbeitsalltag eines Ingenieurs auf den Einstieg in die Industrie vor.
Mit dem dritten Schwerpunktfeld dem Digital Engineering gehen wir dann wirklich in die Produktentwicklung und Gestaltung. Und letztlich müssen die mechatronischen Komponenten dann ja auch in vernetzte Systeme integriert werden. Es geht also um das Zusammenführen der Bausteine und das Finden einer gemeinsamen Sprache im Internet der Dinge, die man zusammenbringen muss.
So kommen Forschung, Lehre und Industrie zusammen. Das finde ich schon sehr spannend.“
Sie sagen Industrie. Sie sind ja auch aktiv für das Munich PLM? Verraten Sie uns, wie es dazu kam? Was hat das Thema für Sie befeuert?
Prof. Salehi: „Das ist eigentlich sehr einfach. Es gibt ja durchaus einige Konferenzen und Möglichkeiten zum Austausch rund um PLM, allerdings fast alle im Norden Deutschlands. Und ich habe einfach gemerkt, dass wir im Süden Deutschlands im Bereich PLM und MBSE Handlungsbedarf haben.
Da wir gerade auch hier in München viele Industriebereiche vertreten haben und die Themen Aerospace, Automotive und Health Care stark bearbeitet werden, dachte ich, eine Möglichkeit zum Austausch auch hier vor Ort, ein Symposium oder Ähnliches wären ein guter Ansatz. Heute besteht der Munich PLM Beirat aus vielen Mitgliedern, genauer sind das OEM’s, Consultants und Hersteller von PLM Systemen. Damit haben wie eine sehr gute firmenübergreifende Austauschplattform geschaffen.
Es geht darum, die Herausforderungen der Zukunft sowohl für uns als PLM-Nutzer aus Forschung, Lehre, Industrie und Beratung als auch für die Hersteller zu verstehen, neue Trends zu identifizieren und unterschiedliche Projekte in diese Richtung anzustoßen, was uns gut gelingt.“
Welche Projekte konnten Sie bisher realisieren?
Prof. Salehi: „Besonders stolz bin ich auf unsere Arbeit im Bereich Model Based Systems Engineering. Wir haben es geschafft das V-Modell mithilfe von Systems Engineering deutlich weiterzuentwickeln. Durch die Hinzunahme agiler Methoden, was eine ursprünglich aus der Softwareentwicklung stammende Projektmanagement-Methodik ist, die sich mit kurzen Entwicklungszyklen auf die kontinuierliche Verbesserung der Entwicklung eines Produkts oder einer Dienstleistung konzentriert, können wir die Agilität im Produktlebenszyklus enorm steigern. So entstand das Munich Agile Concept für MBSE, kurz MAGIC, dass wir seither in verschiedenen Forschungsprojekten einsetzen. Ziel ist es die Herausforderungen der Zukunft in diesem Bereich anzugehen und zu meistern.“
Und was würden Sie sagen sind die Herausforderungen, die beim Model Based Systems Engineering zu beachten sind, denn Systems Engineering ist ja an sich nicht neu?
Prof. Salehi: „Das ist richtig. System Engineering ist an sich nicht neu. Aber für viele Unternehmen hat die Thematik eben jetzt erst Schwung bekommen. Eben dadurch, dass der Vernetzungsgrad und die Komplexität immer mehr steigen. Das Extrembeispiel ist da sicher das autonome Fahren.
Die Kernfrage, die wir uns stellen müssen, ist also, was bedeutet MBSE für die Industrie? Wird es überhaupt angenommen, wenn wir plötzlich aus dem Bereich der Informatik Prozesse nutzen wollen? Und macht es überhaupt Sinn oder gibt es Hemmnisse, die wir anpacken müssen? Die Methoden, die Sprache sowie die Tools und Systeme des Model Based System Engineering funktionieren als Stand Alone Lösung in einem System recht gut. Aber in der heterogenen System-Welt eines Unternehmens spielt vor allem die Interoperabilität, Durchgängigkeit eine sehr wichtige Rolle. Das fängt zum Beispiel mit der anfänglichen Definition der Anforderungen für viele Firmen an. Die Standards, wie die Anforderungen aus einem System zu einem anderen gelangen, müssen weiter ausgebaut werden, um die Interoperabilität zwischen den Systemen abzubilden.
Ein weiteres Problem stellen die unterschiedlichen Sichten auf die Systeme dar. Sie führen dazu, dass man nicht ganzheitlich denkt, sondern in Silos. Deswegen ist es wichtig, besonders die Menschen für die Veränderungen abzuholen und ihnen eine funktionale Denkweise beizubringen, um Produkte kundenorientiert entwickeln zu können.
Die dritte Herausforderung bezieht sich auf die Organisation. Bislang findet in den Unternehmen eine hierarchische Organisation statt, ohne einen Verbund von Systemen zu entwickeln, die die Fähigkeiten und Ressourcen vereinigen. Auch beim Stichwort Systems of Systems ist es also notwendig, die Menschen frühzeitig in den Veränderungsprozess einzubinden und somit durch Change Management einen Paradigmenwechsel zu schaffen. Unternehmen müssen lernen in Systemen zu denken, nicht mehr in Abteilungen oder Dateien. Und das ist eben schwierig. Oder sagen wir, es ist eine neue Herausforderung.“
Und das greifen Sie jetzt auch beim Munich PLM Symposium 2019 auf? Was erwartet die Teilnehmer am 12. September in München?
Prof. Salehi: „Ja, das greifen wir auf. Ich denke dieses Jahr ist uns wirklich eine sehr gute Mischung in den beiden Tracks PLM und MBSE gelungen. Wir haben einige spannende und gehaltvolle Beiträge. Keynotesprecher ist unter anderem Dr.-Ing. Kai Korthals von CLAAS, die ja ebenfalls mit den Lösungen von Dassault Systèmes arbeiten. Er wird zum Thema Product Lifecycle Management and beyond am Beispiel CLAAS referieren.
Auch werden wir 2019 zum ersten Mal Podiumsdiskussionen auf dem Munich PLM Symposium anbieten. Und dann geht es wirklich um die Zukunft von PLM oder eben Plattformen und um das Denken in Systemen. Diese beiden Stränge begleiten das gesamte Event.“
Und welche Themen greifen Sie im Detail beim MBSE-Track auf?
Prof. Salehi: „Ich werde aus den Forschungsberichten des Beirats referieren. Dabei präsentiere ich zwei Aktivitäten, die wir in Bayern angestoßen haben. Zum einen den Bavarian Round Table für MBSE und zum anderen das Forschungsprojekt SAVe, an welchem wir zusammen mit der Audi AG arbeiten. Dabei geht es um die digitale Absicherung autonomer Fahrfunktionen. Das Systems Engineering führen wir mit dem Cameo Systems Modeler von Dassault Systèmes durch.
Und da ich selbst eine Vorliebe für den Bereich autonomes Fahren besitze und ja auch bei Ihrem 3DEXPERIENCE Connect im Juli dazu referiert habe, finde ich das Thema Systems Thinking im MBSE Track sehr interessant, welches Yannik Vogel von Dassault Systèmes beleuchten wird. Bei Systems Thinking trifft Systems Engineering auf die klassischen Produktentwicklungsdisziplinen, Organisationen und Menschen mit dem Ziel, schon auf der Konzeptebene Entscheidungen zu ermöglichen. Dabei ist es wichtig, Artefakte aus allen Entwicklungsdomänen, also Mechanik, Elektrik, Elektronik, Software, als Einheit rückverfolgbar in der jeweiligen Ausprägung für beispielsweise Fahrzeug-Zertifizierung zu managen. Als Kernelement des Systems Engineering bietet Dassault Systèmes seinen Kunden mit dem 3DEXPERIENCE Portfolio diese Rückverfolgbarkeit oder Traceability auch für hoch konfigurierbare Produkte. Diese neue Denkweise wird die Komplexität im Produktentwicklungsprozess der Automobilindustrie, die gerade eine Entwicklung hin zu vernetzten und autonomen Fahrzeugen erfährt, erheblich reduzieren. Das wird also ein spannender Vortrag, auf den ich mich sehr freue.“
Und um welche Themen wird es im PLM-Track gehen?
Prof. Salehi: „Wir stellen in diesem Jahr ja wirklich ketzerisch die Frage, wie es in Zukunft mit dem Product Lifecycle Management weitergehen wird. Als Backbone von Systems Engineering und MBSE steht PLM vor der Frage der Zukunftsfähigkeit. Wie lässt es sich mit den neuen digitalen Errungenschaften wie Digital Twin und künstlicher Intelligenz vereinbaren? Wo verwenden die Firmen und Unternehmen PLM immer noch in Bezug auf zukunftsträchtige Entwicklungen? Wo geht der Trend eventuell stattdessen hin? Was wird PLM in den nächsten Jahren ersetzen? Hier freue ich mich besonders auf die Podiumsdiskussion, bei der die Sicht der Industrie, der Systemhersteller, der Berater und der OEM’s auf dieses Thema zusammenkommt.“